Ich geb´s zu, ich bin ja auch einer von denen, die diese ganze Fahrradsache oft echt ernst nehmen; geknechtete Radfahrer, Klimarettung, Critical Mass. Und Stahlrahmen erst, guter Himmel. Es ist dann ganz lustig, unser Thema auch mal von einer komplett anderen Warte betrachten zu können, und diese Warte stellt sich sofort ein, wenn man den ersten Band der Velothek aus dem Maxime-Verlag aufschlägt.
Vorher schon, eigentlich, denn ein Büchlein, das hübsch sein will, hat man heutzutage nicht oft in der Hand, mit Fadenheftung, Feinleinen-Einband, Lesebändchen und vielen Illustrationen im Text, die sorgfältigen Satz benötigen.
Diese Ausstattung entspricht aber gut dem Obere-10.000-und-Belle-Epoque-Gefühl, das einen schon auf der ersten Seite der Novelle anspringt. Wir treffen die vier Protagonisten der Handlung, Pascal und Régine Fauvières sowie Guillaume und Madeleine d´Arjols, im Jahre 1897 in der Nähe von Paris. Genau, Vorabendserie, Soap Opera, stimmt. Die Namen verraten es sofort, und so geht es auch weiter. Die vier (die Damen sind zur Zeit der Handlung dem Mädchenpensionat noch nicht allzu lang entkommen) bilden zwei Paare, die schon nach kurzer Ehe frustriert sind. Sie stillen im Club nach ganzen drei Kilometern Radfahren im Bois de Boulogne den Bärenhunger, den eine solche Anstrengung nunmal verursacht, nachdem die die livrierten Diener ihre Räder wegstellen ließen.
Die Herren, wie der Autor, sind Experten der Radtechnik, was in manchen etwas didaktisiert wirkenden Dialogen ausführlich bewiesen wird, obwohl, Ehrenrettung, die Unmittelbarkeit der Darstellung der Vorzüge des Fahrrads auf den Seiten 42 und 53 die Begeisterung des Autors fürs Radfahren plastisch widerspiegelt und aus heutiger Sicht einen guten Eindruck von der damalig revolutionären Bedeutung des Fahrrads gibt.
Richtig, der Autor – Maurice Leblanc. Was muss man über ihn wissen? Une Femme (frustrierte Frau), einige Jahre früher, noch etwas Kurzprosa (frustrierte Frauen), dazu journalistisches Alltagsgeschäft der 1890er, und, natürlich, ab dem frühen 20. Jhdt., Arsène Lupin, das französische Äquivalent zu Sherlock Holmes, nur auf der anderen Seite des Handschellenschlüssels. Französische Literatur-Nationalikone. Leblancs frühe Werke erleben zur Zeit in Frankreich eine Renaissance, so erschien Nun wachsen uns Flügel vor knapp drei Jahren im Verlag Éditions Le Pas de coté neu.
Auch Literatur-Nationalhelden haben mal klein angefangen, mit Fingerübungen, und um sowas handelt es sich bei Nun wachsen uns Flügel. Auf dem Schutzumschlag als amouröser Roman angekündigt, entpuppt sich das Buch als Novelle (ein Handlungsstrang, kurz, unerhörtes Ereignis) ohne unerhörtes Ereignis. Selbst im ausgehenden 19. Jhdt. gab es schon deutlich amourösere Bücher, in denen auch intellektuell was los war. Aber die hatten natürlich nicht viel mit Fahrrädern zu tun, meistens, und deshalb ist dieses kleine Büchlein interessant, obwohl überhaupt nichts mit irgendwas passiert, (Zola gab´s schon!), noch nicht mal gute Schreibe, außer den Liebesqualen wirklich spät pubertierender RadfahrerInnen. Erfolgloser Jungautor sucht verkäufliches Thema: Obere 10.000, Fahrräder als neue, faszinierende Technik, nackte Oberkörper, das steckt dahinter.
Die beiden frustrierten Ehepaare, die sich um Geld in keiner Weise kümmern müssen, beschließen, mit ihren Rädern die Normandie zu bereisen. Sie sind auf dieser Luxusreise völlig mit sich selbst beschäftigt, unter flüchtiger Wahrnehmung der vorbeihuschenden Umwelt in Form von Sehenswürdigkeiten, und abends wartet das Gepäck im Hotel. Leblanc baut dazu einen leider holprigen Spannungsbogen auf, in dem auf S. 57 schon Leben als umgekrempelt dargestellt werden, aber es noch weitere 50 Seiten dauert, bis dass ein “Doppelgipfel Ziel und Grund [eines] wollüstigen Spaziergangs” wird. Blümchensex ist Hardcore dagegen. Zum Quietschen, wenn man´s mag, und nicht nur aus heutiger Sicht.
Die Vorhersehbarkeit der Handlung ist das nächste, das einen bei der Lektüre je nach Geschmack vergnügt oder genervt in irgendwas zurücksinken lässt, das gerade zur Hand ist. XX und YY fahren los, XY und YX kommen an. Nun gut. Aber ein kleines retardierendes Moment wär doch nicht zu viel gefordert gewesen, oder? Irgendwas unterwegs, das irgendjemanden ins Schwitzen gebracht hätte? Etwas außer dem stabilen Hochdruckwetter, das nur bei einem kleinen Knatsch zwischen den Neuverliebten von neoromantischem Regen unterbrochen wird? Ein klitzekleines Crime zum fast nicht vorhandenen Sex?
Wirklich unbeholfen wirkt die Charakterisierung einer der Hauptfiguren. “Doch wie war er wirklich? Die widersprüchlichen Vorstellungen, zu denen man im Umgang mit ihm gelangen konnte, hätten nur zu einer recht verworrenen Einschätzung geführt” (S. 13f). Das bleibt auch so. Aber es ist gar nicht so schlimm – wenn man sich einmal auf das Buch einlässt. Auch die zahlreichen abgedroschenen Topoi des galanten Romans (Guillaume d´Arjols als frustrierter Lebemann, der seine Frau vernachlässigt…) kann man diesem Buch verzeihen. Sogar der knüppelweiche Kitsch, der unweigerlich bei Frauenbeschreibungen eintritt (“… erschien sie in einem weißen Wolltrikot über dem Oberkörper, das ihre junge Brust hervortreten ließ und dem Beben ihres Leibes nachgab” (S. 56)), macht nicht viel aus. Den Lesern bleibt zwar auch nicht erspart, dass Leblanc den uralten Schönheitenkatalog (volle Lippen, Harmonie von Hüfte… und was war´s noch gleich?) ausgräbt und bei der Ausgrabung böse beschädigt. Egal. Sogar die ungewollte Komik, die sich einstellt, als der Erzähler es als bedeutsames Ereignis klassifiziert, dass Pascal seiner neuen Liebe dieselbe gesteht (S. 80), geht durch.
Denn: Die Illustrationen, entnommen aus der Originalausgabe, sind wirklich der Traum, wenn man Jugendstil liebt. Jugendstil, das Aufbegehren gegen die akademisierte, historistische Kunst des 19. Jhdts, gegen Kitsch und Schnörkel. Der Illustrator Lucien Métivet, der Meister der Karikatur, der Satire, des Humors – er rettet das Buch mit seiner Ironie. Die mega-süßlichen Darstellungen der Protagonistinnen; der weibliche Zephir, der das Fahrrad stilisiert mit Rückenwind antreibt – das kann nicht ernst gemeint sein. Wenn auf S. 68 der Vergleich mit den Statuen beansprucht wird (“He, hört mal, Ihr sehr aus wie drei Statuen… Sie, Guillaume, wie die des wohlerzogenen Begehrens… du, Pascal, wie die des anhaltenden Grimms…”), kommt Métivet prompt mit einem Bild rüber, das die Beschriebenen zeigt wie Porzellanfiguren auf einem Sockel. Das ist köstlich und erzeugt eine ironische Spannung zum Text, die das ganze Buch genießenswert macht.
Überhaupt die verschwenderische Fülle der Illustrationen, manche sogar zweifarbig, ganz in Métivets Plakat-Übung. Die von den Protagonisten erradelten und von Métivet gezeichneten Sehenswürdigkeiten allein sind es wert, das Buch zu betrachten. Jedes Kapitel erhält zudem eine Schmuckinitiale, die die Handlung zusammenfasst und deren Großbuchstaben die deutschen Herausgeber sorgsam angepasst haben.
Das kultur- und literaturhistorische Nachwort von Elmar Schenkel überbrückt die zeitlichen und kulturellen Entfernungen, die zwischen Buch und heutigen Lesern liegen, sehr informativ. Ich empfehle es vor der Novelle zu lesen.
Wenn Ihr also mal Lust habt zu entspannen, Euch nicht für die Weltrettung zu bilden, aber doch was mit Fahrrad zu lesen – Nun wachsen uns Flügel ist Euer Ding.
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Maurice Leblanc, Nun wachsen uns Flügel, Maxime-Verlag 2015, Reihe Velothek, 157 Seiten, aus dem Französischen von Una Pfau und Matthias Kielwein, mit einem Nachwort von Elmar Schenkel, zahlreiche Ill. von Lucien Métivet, Hardcover, ISBN 978-3-931965-54-9, Preis 19,95€.
Anmerkung: Ich bin Autor des Maxime-Verlags und habe ein Rezensionsexemplar des besprochenen Werks erhalten.
Métivet-Illustrationen mit freundlicher Genehmigung des Maxime-Verlags.